Der fehlende Schein trügt

Nichtsahnend stand ich am Bahnhof und wartete auf meinen Zug, mit Musik auf den Ohren und einem Buch in der Hand.

Genervt, weil mich jemand aus meiner Festung der Ignoranz holte, starrte ich den Eindringling an. Es dauerte einen Moment, bis die an mich gerichteten Worte Sinn ergaben - auch noch, nachdem ich die Kopfhörer entfernte. Mein Hirn wusste, dass es dieses Kauderwelsch schon einmal gehört hatte. Alte Wunden wurden aufgerissen, als mein Unterbewusstsein die Sprache zuordnen konnte. "Parlez-vous français?", donnerte es mir entgegen. Reflexartig und mit panikgeweiteten Augen antwortete ich: "No!" Die Quelle der Belästigung sprudelte jedoch frisch-fröhlich auf Französisch weiter.

Sie faselte etwas von Geld und einem Ticket, das sie braucht. Mein Blick scannte sie von oben bis unten. Sie trug einen bunten Rock, langes, geflochtenes Haar und üppigen Schmuck. Ich riss Schränke und Schubladenelemente auf, wühlte und kramte, bis ich das vermeintlich passende Klischee fand: Zigeunerin!

Mit lähmender Geschwindigkeit grub mein Verstand die letzten noch nicht vollständig verwesten Überreste meiner Französischkenntnisse aus. Modrige Überbleibsel einer längst vergessenen Sprache krochen über meine Lippen und hinterliessen einen fahlen Nachgeschmack mit starkem Schweizerakzent, als ich ihr sagte, dass ich kein Geld habe.

Als die Frau ihr Portemonnaie zückte und mit Geldscheinen wedelte, realisierte ich, dass sie nur nicht wusste, wie der Ticketautomat funktionierte. Der Fluch der Vorurteile schlug zu. Wobei ich mir die Finger gewaltig am Stereotypen-Denken eingeklemmt habe. Um vom Schmerz über mein vorschnelles Urteil abzulenken, löste ich ihr ein Ticket. Nun gehört sie zu den Fahrenden mit einem gültigen Billett.

Ich nehme mir vor, meine Voreingenommenheit abzustreifen. Mich davon frei zu machen. Denn nur wer seine Vorurteile kennt, kann toleranter werden, denke ich mir, als ich im Zug meine Tasche durchwühle, um zu schauen, ob etwas fehlt.