top of page

Die Weiten des Selbstzweifels

  • Schmiedewurm
  • 6. Feb. 2019
  • 2 Min. Lesezeit

Langsam lässt er seine Hand über das Gitter gleiten. Rötlich braune Rostflocken bleiben an seinen Fingerkuppen hängen. Legen sich sanft auf die durch den Stacheldraht verursachten Schnitte. Kerben unzähliger Versuche, über sich selbst hinaus zu wachsen. Die Patina umhüllt seine Finger und lässt sie wieder vollkommen wirken und nimmt ihm doch die Identität, da sie nun keine Abdrücke mehr hinterlassen, ausser dem Korrosionsprodukt selbst – der Stempel seines Unvermögens. Er betrachtet seine Finger eingehend. Doch wie er sie auch dreht und wendet, die poröse Hülle schützt ihn nicht vor der inneren Zersetzung.


Die stählernen Rechtecke verhöhnen ihn, da sie ihm einen Blick auf etwas gewähren, das ihm doch verwehrt bleibt: Selbstsicherheit. Nach jahrelangem Fehlen eben dieser, weiss er nicht mehr, ob es sich um eine selbstgewählte, selbstverschuldete oder eine ihm aufgezwungene Hemmung handelt. Er weiss nur, dass die Stunden vor dem rostigen Gitter der Selbstzweifel immer länger werden.


Er möchte über den Rand hinaus malen. Sich keine Grenzen setzen lassen und doch ist er es selbst, der die Stifte stumpf werden lässt. Aus seinem einstigen Freund wurde über die Jahre ein aus pflanzlichen Fasern bestehender weisser Feind, der ihn durch seine Makellosigkeit verspottet. Ihn stumm provoziert. Angstschweiss bedeckt seine Stirn. In der Zornesfalte sammeln sich die Tropfen. Lemminge, die über die Klippen seines kantigen Gesichts in die Tiefen des bereits von weissen Schandflecken übersäten Synthetik-Gewebes stürzen.


Er malt sich aus, wie es wäre, wenn er von sich überzeugt am Tisch sitzen könnte, um ohne Bedenken Texte zu verfassen. Sich zu erheben, um nicht mehr länger Knecht seiner Ängste zu sein. Die Zerrissenheit zu unterjochen und als freier Geist Worte zu vereinen. Er setzt die Feder an. Verachtung und Begehren mischen sich. Das Blatt bleibt leer.


Er wäre so gern in der Lage, den Entschluss und vor allem den Mut fassen zu können, sich selbst und der Menschheit zu beweisen, dass ein Schriftsteller in ihm steckt. Er möchte mit seinen Zeilen die richtigen Töne treffen, um Emotionen herauszulocken und seine Leser in Bann zu ziehen, wie ein morphologischer Rattenfänger, jedoch ohne die grimmsche Verschleppung in den Berg. Denn seine Worte sollen von den höchsten Gipfeln schallen. Doch bei jedem Höhenmeter den er zurücklegt, hinterlassen seine Steigeisen immer tiefere Furchen, sodass aus seiner ersehnten Erfüllung eine schwindelerregende Skepsis wird. Wieso soll jemand seine Texte überhaupt lesen wollen? Wer sagt, dass er gut genug ist. Gut genug, seine Leidenschaft zu teilen und dabei nicht den Kopf zu verlieren, durch das Schafott der Be- und Verurteilung – sei es die eigene oder die der anderen.


Die quälende Gewissheit, immer nur Zaungast zu sein, schmerzt ihn. Er hat das Weinen schon lange verlernt. Zu oft ist er an sich selbst gescheitert. Das Taschentuch lediglich ein trockenes Symbol des Versagens: Die weisse Fahne seiner Kapitulation.



Kommentare


© 2023 by Schmiedewurm

bottom of page