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Ich habe eine Meise

  • Schmiedewurm
  • 26. Apr. 2020
  • 2 Min. Lesezeit

Das schöne Wetter geniessend, mache ich es mir auf dem Balkon gemütlich. Die warmen Sonnenstrahlen verwöhnen das Gemüt und verbrennen die Haut. Plötzlich verheddert sich etwas in meinen Haaren. Ich brüte noch darüber nach, was das wohl sein mag, währenddem bereits Vögelchen schlüpfen. Dies ist der Beweis, mein letzter Coiffeurbesuch ist eindeutig zu lange her.

Um in der Isolation nicht zu vereinsamen, behalte ich meine neuen Freunde. Und weil nicht nur mein Haupthaar zu einer wallenden Mähne herangewachsen ist, haben sie auch unter meinen Armen ein Zuhause gefunden.

Mittlerweile habe ich auch aufgehört, Schnecken und Insekten aus meinem Schlund in die hungrigen Mäuler meiner neuen Mitbewohner zu würgen. Es war jedes Mal ein Heidenaufwand, die Viecher zu waschen und die Böden zu putzen, nachdem ich meinen Mageninhalt über ihnen entleerte. Auch mein Rücken begrüsst den Lockdown, da ich nun nicht mehr versuche, die Schwerkraft zu überlisten, während ich kopfüber in meine Achseln reihere. Das Zuhausebleiben hat somit nicht nur gesundheitliche, sondern auch putztechnische Vorteile, da ich die Vogelnahrung nicht mehr selbst im Wald sammle, sondern online bestelle. Und solange meine Drüsen genug Schweiss absondern, werden auch die trockensten Vogelkörner zu einem nahrhaften Brei, der gut in meinem momentanen Corona-Pelz haften bleibt, sodass die Tierchen jederzeit etwas zu essen haben.

Oft sitzen wir gemeinsam auf dem Balkon und beflügeln die Nachbarn mit unseren Gesangskünsten. Es macht so viel Freude, insbesondere, da sich niemand dagegen wehren kann. Denn dank den hohen Temperaturen und den strikten Massnahmen des Bundes, ist uns ein Publikum stets garantiert. Und wenn ich die Ohren zuhalte und laut genug pfeife, kann ich die Buhrufe fast gänzlich ausblenden.

Doch mein neues Leben als freiberuflicher Ornithologe findet bald ein Ende. Die Frisöre öffnen wieder ihre Tore. Ich muss das Federvieh ziehen und dabei selber Federn lassen. Ich habe dann zwar keinen Vogel mehr, aber ich bleibe dennoch ein komischer Kauz.

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